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Impressionen einer Vernissage
 

Wir schreiben den 29. Mai 2022. Es ist ein Sonntag und der Tag von Yukis Vernissage in den Räumen des Borgfelder Stiftungsdorfes. Ein guter Ort, der schon manche Ausstellung von Künstlerinnen des Kulturforums Borgfeld gesehen hat. In wenigen Minuten, um 15:00 Uhr, ist Eröffnung. Die ersten Besucher sind schon da. Renate bietet Orangensaft an. Yuki, festlich gewandet, eilt durch den Raum. Hierin, dorthin, um noch Dinge zu richten und letzte Hand anzulegen. Flink ist sie und anmutig in der Bewegung.
 

Der Raum füllt sich. Männer tragen keine Schlipse mehr. Warum auch? Selbst den Bundeskanzler und seine Regierungsmänner sieht man meist oben ohne. Das lockert die Atmosphäre. Auch hier im Ausstellungsraum. Small talk mit einem Glas Saft in der Hand. Fast wie in einer der großen Galerien in Paris oder London oder New York. Da kann Borgfeld schon ein bisschen mithalten.
 

Ich nutze die Zeit bis zur Eröffnung für einen ersten Rundgang. An den Wänden sind Kleinformate gehängt mit kaligraphischen Motiven. Sind das alles Schriftzeichen mit einer bestimmten Bedeutung? Oder Phantasiegebilde, deren Entstehung von einem Schriftzeichen ausgelöst, provoziert wurde? Ich weiß es nicht. Aber es interessiert mich. Ich nehme mir vor, Yuki zu fragen, wenn dazu Gelegenheit ist.
 

Vor einem Bild verweile ich. Yuki hat mir einmal erklärt, dass die japanischen Schriftzeichen, die eigentlich chinesische sind, häufig stilisierte Formen von konkreten Dingen sind, etwa von einem Tier oder einer Pflanze. Mit etwas Phantasie kann man das zugrundliegende Bild rekonstruieren. Ob das hier auch geht? Ich bewege mich vor und zurück, nach links und rechts, um das Bild zu studieren. Plötzlich sehe ich eine Tänzerin, mit Ballettröckchen, auf den Zehen spitzen des einen Fußes eine Pirouette drehen. Der Körper leicht nach links gebeugt, ein Knie an gewinkelt. Eine graziöse Pose. Was aber soll der große Kreis, der wie ein gewaltiger Wasserkopf auf dem zierlichen Körper sitzt? Ich weiß, dass diese Frage - vielleicht schon die Assoziation - ungehörig sind. Vermutlich sieht ein anderer Betrachter etwas völlig anderes in dem Bild. Dann passt der Kreis auch besser. Wie dem auch sei. Das Bild fasziniert mich. Ich trenne mich erst, als Renate das Wort ergreift, um die Besucher zur Eröffnung der Ausstellung zu begrüßen.


 

Renate begrüßt, als Organisatorin der Ausstellung, die Gäste. Dann kommt Yuki. Auch sie fasst sich erfrischend kurz. Ein paar Worte zum Thema der Ausstellung. Wer weiß schon, was „M….“ heißt? Das muss erläutert werden. Einige Bemerkungen zu den Bildern. Das ist alles. Da ist ein Besucher, der selbst Kalligraphie macht, schon etwas ausführlicher. Offensichtlich jemand, der schon in Yukis Seminaren zur Kalligraphie gesessen hat und Freude an der Arbeit mit Tinte und Pinsel gefunden hat. In der Schar der Besucher sind auch Damen, die sich als Kalligraphie-Begeisterte zu erkenne geben. Mir will scheinen, dass sich unter den Besuchern eine Art Fangemeinde befindet, die sich in besonderer Weise für Yukis Kunst interessiert und sich bemüht, es der Meisterin gleichzutun. So gut es eben geht.
 

Ich kann das gut verstehen. Nach den einführenden Reden habe ich Muße, Yukis Arbeiten in aller Ruhe zu betrachten. Und: ich bekomme Lust, selbst solche Bilder zu machen. Ohne Zwang zur Gegenständlichkeit. Ich stelle mir vor, wie ich mit den traditionellen Werkzeugen der Kalligraphie umgehe: Pinsel, Reibschale, Tusche. Ob ich die Reibschale benutzen werde, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich die Tusche selbst anrühren werde. Schon gar nicht mit Wein. Das soll es gegeben haben - habe ich bei Wikipedia gelesen.
 

Ich stelle mir vor, wie ich - ganz konzentriert auf mein Werk - über das Papier gebeugt das Bild entstehen lasse. Jetzt gibt es nur noch den Bogen vor mir. Ich bin gewissermaßen versunken in mein Tun. Das muss wunderbar sein. Führe ich den Pinsel? Oder werde ich geführt? Ich kann mir vorstellen, dass das Malen auch eine entlastende Funktion für die Seele hat. Darüber habe ich nichts bei Google gefunden; gleichwohl meine ich, eine spirituelle Dimension in den Bildern und in der Vorstellung von ihrer Entstehung zu entdecken. Ich denke schon, dass Kalligraphie helfen kann, zu innerer Ruhe zu gelangen. Die brauchen wir alle so dringend. Ich sollte mich auch in dieser Kunst üben.


 

„Komorebi“. Unter diesem Thema steht Yukis Ausstellung. Ich hatte - woher auch - keine v Vorstellung, was dieses japanische Wort bedeutet. Yuki erklärte mir, das sind Effekte, die entstehen, wenn Licht durch das Laub von Bäumen fällt.
 

Licht hat mich schon immer fasziniert. Schon als Kind. Wenn in unserem Landhaus, das eigentlich nur ein kleines Holzhaus auf einer Parzelle bei Berlin war, an einem hellen Sommermorgen das Licht durch die Ritzen der Fensterläden fiel und mich aus dem Schlaf weckte, dann wusste ich, dass ein wunderbarer, neuer Tag vor mir lag. In den Lichtstreifen bewegten sich Staubteilchen. Ich wusste auch, dass mich das gleißende Licht blenden würde. Ich hatte schon immer sehr empfindliche Augen. Ich trat blinzelnd in das Licht hinaus, an das sich die Augen nur langsam gewöhnen konnten. So begann ich meinen Tag, in all den Erwartungen und Wundern der frühen Jahre.
 

Ich denke, dass man „Komorebi“ verstehen kann als “Lichflecken“, die sich - wenn die Sonne hoch steht - scharf konturiert auf dem Boden abzeichnen. Das Wort „Lichtflecken“ habe sich zum ersten Mal bewusst gehört im Kunstunterricht. Es wird in der 12. Klasse gewesen sein. Wir sprachen über die Deutschen Impressionisten. Liebemann, Slevogt, Corinth. Die hätten das Motiv der Lichtflecken in ihren Bildern gern dargestellt. Ich fand das nicht besonders interessant. Bis ich selbst an einem sonnensatten Sommertag in einer Berline Allee vor mir auf dem Boden Lichtflecken entdeckte. Vielfältig geformt. Manche gezackt. Eigentlich nichts Besonderes. Und doch eine wunderbare Entdeckung. Etwas, was immer schon da war, und doch zum ersten Mal bewusst wahrgenommen wurde.
 

Wer kennt ihn nicht: den „Papageienmann“ von Max Liebemann? Im Jahre 1902 gemalt. Eine Szene aus dem Berliner Zoo. Der Papageienwärter, in blauer Jacke und mit Mütze, leicht nach vorn gebeugt, reckt er sich hoch zu dem Tier, das vor ihm auf der Stange sitzt. Mit der linken Hand hält er - an der Hüfte - einen Rahmen, auf dem sich zwei weitere Vögel befinden. Der Mann, in seiner Art, eine eindrucksvolle Erscheinung, nicht zuletzt durch den buschigen Schnurrbart, den er trägt. Ein Mann, der seine Arbeit versteht und wohl auch gern verrichtet. Ein Mensch, dem man zutraut, dass er seine Tiere gut versorgt. Das ist das eine, was das Bild so faszinierend macht: die Gestalt des Wärters in seiner Schlichtheit und seiner inneren Ruhe, die sie ausstrahlt. Das Andere ist das Licht als Faszinosum. Hell und Dunkel prägen das Bild. Die Bäume der Allee dämpfen das Licht eines sonnendurchstrahlten Sommertages. Und: auf dem Boden: Lichtflecke, die über das ganze Bild verteilt sind und wie helle Inseln in der Beschattung wirken.
 

Es ist Jahrzehnte her - eigentlich ein ganzes Leben -, dass ich zum ersten Mal den „Papageienmann“ gesehen habe. Ich wusste damals nicht, was „Komorebi“ bedeutet: Licht, das durch das Laub der Bäume fällt. Woher auch? Heute weiß ich es. Und ich weiß, dass das Faszinosum Licht den Künstler in Japan genauso in seinen Bann zieht wie den Maler auf der anderen Seite der Erdkugel. Ich finde das bemerkenswert und irgendwie tröstlich.

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